Gegen die Verachtung

Täglich hören wir von grausamen Vorfällen irgendwo auf der Welt und sogar wenn wir nicht davon hören wissen wir, dass es sie gibt. Die Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen und damit mitten in Beirut, ist nicht die erste Katastrophe, die den Libanon, Beirut und seine Menschen trifft. Katastrophen kommen oft von außen, sie haben einen schicksalhaften Charakter. Die Libanesen haben aufgrund der Geschichte des Landes und seiner kollektiven Entwicklung nach dem Bürgerkrieg gelernt, damit und auch mit den selbst induzierten Krisen umzugehen. Auf verschiedene Weise profitierten am Ende (zu) viele von einem Nichtangriffspakt.

Kollektiver Widerstand

Die junge Generation hat diese Situation erstmals aufgebrochen. Im Herbst 2019 hat die Mehrheit der Libanes*innen vereint NEIN gesagt. Es ging darum, nicht mehr hinzunehmen, dass nichts zu ändern ist an einer unerträglichen Situation, die zum Vorteil weniger und zum Nachteil der Vielen gereicht. Die vielen Menschen auf der Straße wollten ein von den bestehenden Eliten unabhängiges politisches System, ein nicht korrumpierbares demokratisches Vertretungsprinzip, das für alle gleiche Chancen vorsieht. Ich war von der Grassroots Bewegung, der Klarheit ihrer Forderungen und ihrem Gestaltungswillen sehr beeindruckt. Selbst physischen Angriffen von Schlägertrupps hat sich die unbewaffnete Zivilbevölkerung mutig entgegengestellt. Immer und immer wieder. Ein aus dieser Perspektive fauler Kompromiss sollte die internationalen Geldgeber und die libanesischen Eliten befriedigen. Und jetzt das.

Ignoranz wird zur Verachtung

Die Explosion von 2750 Tonnen hochexplosivem Material, von dem jeder in der Regierung und beim Militär wissen musste und niemand etwas unternommen hat, ist der vorläufige Höhepunkt. Es braucht nur Hausverstand, um standardgemäße Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und das Material entsprechend außerhalb von Wohngebieten zu lagern. Es ist genau diese Form der Vernachlässigung, des fehlenden Respekts gegenüber Menschen und jedem Lebewesen in diesem Land, die mich immer wieder dazu veranlasst hat, nach einiger Zeit das Land zu verlassen; da ich die Ignoranz, mit der Menschen alltäglich Leid zugefügt wird – durch gravierende Umweltverschmutzung und Vorenthaltung von menschenwürdigen Lebensbedingungen und Versorgung mit dem Nötigsten – nur schwer ertragen konnte. Dabei ging es nicht darum, dass der Libanon so wenige Ressourcen hat, dass es nicht leistbar wäre, menschenwürdige Zustände herzustellen, denn es gibt Eliten. Die wenigen, die unvorstellbar reich sind, das offen zur Schau tragen und ihr Geld dafür einsetzen, dass sich nichts ändert.

Diese Explosion ist nur die Spitze einer langen Kette von verachtendem und herabwürdigendem Umgang zwischen einer politischen Kaste und der Bevölkerung vor pseudodemokratischen Strukturen, die nur dafür ausreichten, ausländische Regierungen zum Nichtstun zu beruhigen.

Letzte Chance

Die Reaktion der Menschen kann daher nur unfassbare Wut sein und diese Wut ist nicht nur verständlich, sondern auch angebracht. Jetzt muss geholfen werden, die Schäden dieser Katastrophe so gering wie möglich zu halten, aber danach kommt erst die große Aufgabe: den Libanesinnen und Libanesen, die noch die Kraft haben, die Chance zu geben, dass sie selbst Verantwortung für ein besseres Leben übernehmen dürfen und nicht als Spielball der Mächtigen erneut an die Wand geschlagen werden.

Meinen Freundinnen und Freunden gewidmet – Wir sind Libanon

In der letzten Zeit bin ich immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser fehlende Respekt und meine Verzweiflung, dass meine Freund*innen das ertragen müssen, in gleicher Weise uns hier in Europa betreffen. Im Libanon war es zu offensichtlich, aber inzwischen kommen auch hier immer mehr Praktiken an das Tageslicht, die dieselbe Form von Verachtung und Herabwürdigung menschlichen Geistes und Lebens beinhalten. Wir sind alle im gleichen Boot, die Klimakrise ist ein anschauliches Beispiel dafür. Eines von vielen. Meine Freunde im Libanon unterscheiden sich in ihren Träumen, Wünschen und Potentialen nicht von uns. Wir kämpfen alle den gleichen Kampf für mehr Menschenwürde und Chancengleichheit.

Ausflug in den Hafen

*Das Photo entstand bei meinem ersten und letzten Besuch des Hafens von Beirut im Oktober 2019. Ich liebe Häfen und wollte immer schon einmal den Hafen in Beirut näher inspizieren. Man sieht ihn von überall in der Stadt, vor allem die großen Silos, die aus jedem Photo von Beirut herausragen. Kein Passagierhafen, sondern industriell genutzt. Da er hinter einer Autobahn liegt, ist er schwer zugänglich. Ich hatte immer den Eindruck, dass es nicht erwünscht ist, sich vor Ort anzusehen, wie heruntergekommen dieses Areal bei näherem Hinschauen ist und in welch erbärmlichen Behausungen die Hafenarbeiter leben. Damals hatte ich natürlich keine Ahnung davon, was in den Silos gelagert wird. Man sagte mir, es seien Getreidespeicher.

Ich überquerte die Autobahn über die Fußgängerbrücke und war als Einzige zu Fuß unterwegs. Eine sichtbar vernachlässigte ärmliche Gegend und durch männliche Fremdarbeiter dominiert, die sehr irritiert waren, dass da auf einmal eine Frau entlang spaziert. Da es vergleichbar Heruntergekommenes an mehreren Stellen in Beirut und im Libanon gibt, habe ich mich nicht abhalten lassen und die abgehalfterten Securities nahmen auch nicht weiter Notiz von mir. Also ging ich immer weiter, schließlich wollte ich das geschäftige Treiben eines Industriehafens sehen, welches ich allerdings nicht vorfand. Nachdem ich die Silos am Wasser erreicht hatte, umgeben von heruntergekommenen Arbeitersiedlungen und mit ein paar im Schatten dösenden Menschen, die mich alle beobachteten, suchte ich mit Hilfe von google maps einen schnellen Weg hinaus. Es war eine unheimliche Gegend, keiner meiner Freunde aus Beirut ging hin und ich hatte das nach meinem Ausflug auch nicht mehr vor.

interessante Links:

Vertrauenswürdige NGOs Spendenorganisationen im Libanon
DerStandard Gudrun Harrer: Analyse
Inside Lebanon von Mideast Eye
Beispielhafte Portraits von 2 mutigen Frauen in Beirut: Sabine: Kämpferin für das Gute und Kämpferin für Nachhaltigkeit
Persönliche Bilder zur Lage im Libanon Herbst 2019: Revolution
Artikel zum Libanon vor der Katastrophe von Paradiesische Hölle