Dieser Beitrag ist meine nachträgliche, persönlich geprägte Antwort auf die historische Analyse der Entstehung Europas und ihrer Auswirkungen auf die Beziehungen zum Osten.

Der Rucksack

Als Europäerin war ich zunächst völlig überfrachtet von eigenen, übernommenen westlichen (Angst-)Vorstellungen, feministisch geprägten Grundvorbehalten, unspezifischen Erwartungen an das andere, von orientalischen Märchen und Fantasien aus der Kindheit und von biblischen Plätzen, Weihnachten und Jesusgeschichten aus dem (protestantischen) Religionsunterricht gepaart mit den (Fernseh-)Bildern von Kriegsschauplätzen im Nahen Osten, solange meine Erinnerung zurückreicht. Und das war vor dem Beginn der großen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer nach Europa, die ich von Jordanien aus und damit ganz anders erlebte.

Europa kam aus dem Osten

Auf Europas Geschichte und Ursprünge bin ich erst zum Ende meiner einjährigen Entdeckungsreise in arabischen Ländern aufmerksam geworden. In Beirut, wo ich im Museum auf dieses wunderschöne Mosaik aus Byblos stieß, und in Tyros, wo Europa Astarte als phönizische Ur-Göttin verehrt wird. Sie steht für Fruchtbarkeit, Sexualität und Krieg. Die göttliche Verkörperung des Morgen- und des Abendsterns. Die Geschichte Europas und ihrer Auswirkungen auf uns Europäerinnen haben für mich im Nachhinein Erkenntnisse erschlossen, die für mich während meines Aufenthaltes noch verschleiert waren.

 

Bewegt – östlich und westlich des Mittelmeeres

Die ganze Zeit über war ich über mich selbst verwundert, wie sehr mich manche Plätze und Begegnungen in Jordanien und Palästina emotionalisiert haben. Der unaufhörliche Drang, die arabische Kultur und Sprache besser kennen zu lernen, zu verstehen – verbunden mit einer für mich nicht erklärlichen Sehnsucht. Nirgendwo auf meinen Reisen hatte ich zuvor das Gefühl, zu meinen eigenen Wurzeln, zum eigenen Ursprung zurück gekehrt zu sein oder so etwas wie die ursprüngliche Heimat gefunden zu haben. In mir wurden so viele unbekannte Gefühle wirksam, denen ich mich hingab und von denen ich mich leiten ließ; weil ich sie rational nicht verstand und fühlte, dass sie mich in gewisser Weise meiner Selbsterkenntnis näherbringen würden. Sie haben meine Route vorgegeben durch Jordanien, nach Palästina, Israel, auf die arabische Halbinsel und zuletzt in den Libanon. Ich begriff nach und nach, dass es um viel mehr als den sprachlichen Erwerb ging. Mein Antrieb wurde mehr und mehr die Selbsterkenntnis, die sich mir in einem Ausmaß eröffnete, das weit über Reiseerfahrungen und die Konfrontation mit fremden Kulturen hinausging. Eben keine fremde Kultur, sondern eine ganz nahe, wenngleich auf einer basalen Verständnisebene.

Als westliche Frau gewissermaßen eine Exotin habe ich für mich unbekannte Gastfreundschaft erfahren und Begegnungen mit Frauen und Männern mit ungeahnten Beziehungstiefen erlebt, gleichzeitig musste ich vereinzelt schwierige Erfahrungen machen, die mich an die Grenzen meines westlich sozialisierten Verhaltens-Repertoires heranführten. Ungeachtet dessen habe ich mich als Frau stark gefühlt, angstbefreit und geborgen – außerhalb des europäisch dominierenden Leistungs- und Bewertungswahns, den ich in jeder meiner Zellen wiederfand, von dem ich durchdrungen war. Europa ist dort, wo die Sinne der Ratio untergeordnet werden und das weibliche Element mit Vehemenz gesellschaftlich unterdrückt wird. (interessant dafür die Diskussion zur matriarchalen Geschichtserzählung)

Spurensuche ohne Orientalismus

„Ohne Okzident kein Orient. Und ohne Orient kein Okzident.“ Viele sensible Geister sind der Sehnsucht in den Osten gefolgt und nachgegangen. Neben Reisenden, EntdeckerInnen und WissenschafterInnen auch zahlreiche KünstlerInnen – Musiker und Schriftsteller von Goethe, Balzac bis Liszt – nachzulesen in dem unglaublich reichhaltigen Roman Kompass von Mathias Enard (2015). Er thematisiert auch die Grenzen europäischer Erkenntnisinteressen und der Orientalisierung im Sinne der kolonialistischen Betrachtung. Edward Said hat diese Perspektive als erster in der Forschung zum Postkolonialisimus wissenschaftlich begründet (Edward W. Said, Orientalism, 1978). Er stellt klar, dass die „Erfindung“ des Orients und die „Erfindung“ Europas als Seiten der gleichen Medaille darzustellen sind. Weder gibt es den „wahren Orient“ noch das „wahre Europa“. Eigen und fremd gehören zusammen. Das entspricht genau den Empfindungen, die mich vor Ort immer wieder bewegt haben. Nämlich das Gefühl, dass wir in Europa wesentliche Aspekte ausblenden und abspalten, die zu unserer Ganzheit dazu gehören. Teil davon ist auch ein verantwortungsvoller Umgang mit unserem kolonialen Erbe.

Nachtrag zu Safa kam aus dem Westen: Sie kam aus Austria. Auster, der begriffliche germanische Ursprung bedeutet „im Osten“, gemeint war das Herrscherhaus Domus Austriae seit dem frühen Mittelalter. Safa kam also eigentlich aus dem Osten des Westens in den Osten. Je nach Perspektive ist man also immer im Osten und im Westen.


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