Die Entstehung Europas und die Entwicklung des Ostens

Aus der Mythologie:

Europa. Das war eine phönizische Prinzessin, Tochter des Königs Agenor. Sie wurde von Zeus, der sich in einen Stier verwandelte, entführt. Auf seinem Rücken brachte er sie auf eine griechische Insel. Auf Kreta legte Zeus seine Stiergestalt ab, offenbarte sich und verführte Europa. Europa gebar drei Kinder und blieb in dem fremden Erdteil, sie kehrte nicht zurück. Aufgrund einer Verheißung Aphrodites hieß der fremde Erdteil von nun an Europa. Kadmos, der sie suchende Bruder, fand stattdessen eine neue Heimat und gründete die Stadt Theben. Er brachte die Laut-Buchstabenschrift nach Griechenland, wo zur damaligen Zeit noch die Keilschrift vorherrschte. Der erste Buchstabe des Alphabets, das A, das griechische Alpha und das phönizische Aleph, hat die Form eines Stierkopfes. Die Hochkultur im Osten und das Wissen der semitischen Völker befruchteten die kulturelle Entwicklung Griechenlands. Eine Symbiose von Osten und Westen.

Überliefert aus der Ilias von Homer und den Metamorphosen von Ovid.

“Der patriarchale Mythos vom Sieg des Mannes über die unterlegenen Volksgruppen verbindet sich mit dem Bild von Europa und dem Stier.”

(Anette Kuhn, 2009)

Neben der patriarchalen mythologischen Darstellung gibt es auch eine matriarchale Überlieferungsgeschichte.

Europa als Sinnbild einer Kulturbringerin, die aus dem Orient kommt –
Matriarchale Auslegung von Europa auf dem Stier

Europa Phönizisch: Abend – Westen
Europa Griechisch: die (Frau) mit weiter Sicht

Europa als Astarte ist die babylonisch-syrische Liebesgöttin, die von den Phöniziern in Sidon, einer Stadt im heutigen Libanon, verehrt wurde. Die Kuh symbolisiert mit ihren Hörnern die weibliche Schöpfungskraft, die Hörner gelten als deren Abbild. Nur durch die Verschmelzung mit den weiblichen Anteilen konnte der König an der kosmischen Kraft teilhaben. In der matriarchalen Erzählweise hat Telephassa, die Mutter von Europa, das ungezügelte Verhalten von Zeus durch Verweigerung der Liebe sanktioniert. Liebe kann nicht erzwungen werden …

In der matriarchalen Erzählung „musste sich auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht.“

Anette Kuhn: warum sitzt Europa auf dem Stier? Patriarchale Grundlagen von Europa, 2009

Ute Frevert und Margrit Pernau analysieren in ihrem Beitrag zur Europäischen Geschichte das Erwachsenwerden und das Verhältnis zur nicht-europäischen Herkunft von Europa.

Die Geschlechtsumwandlung der Europa …

Bis ins 16. Jhdt wird Europa auf Bildnissen als Frau und gekrönte Herrscherin mit der Weltkugel in der Hand dargestellt. Der Machtverlust der Frau und die Dominanz der patriarchalen Vorherrschaft entstehen mit der aufkeimenden französischen Revolution. „Die Männer der Französischen Revolution und ihre Erben im 19. und 20. Jhdt waren nicht bereit, das Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz, das in dem klassischen Bild von Europa zum Ausdruck kommt, anzuerkennen.“ (Kuhn, 2009) Dies wird in der Polarität der Geschlechterkonstruktion des 18. Jhdts deutlich: kraftvoll, gestaltend und zeugend versus schwach, ausführend und empfangend. Zwei bedeutende Ereignisse bedingen einander: Die beginnende Phase der Eroberer und Entdecker – Europa wird erwachsen – und sie erfährt eine Geschlechtsumwandlung. Europa mutiert zu einem Mann.

“Europa unterzog sich, als sie erwachsen wurde, einer Geschlechtsumwandlung. … Nur als Mann konnte sie jene unbändige Kraft und Kreativität entfalten, die sie gegenüber ihren nicht-europäischen Kindern zur Schau stellte. Nur als Mann konnte sie Macht ausüben.”

(Frevert & Pernau, Europa ist eine Frau, 2009)

Das männliche Europa definiert seine Identität aus der Differenz zu Frauen und den unterdrückten Völkern, den Orientalen

Erst als Mann kann Europa die Macht ausüben, die es ihr ermöglicht, Frauen und unreife Kinder (Länder im Süden und Osten) zu unterwerfen. Edward Said (Orientalism, London 1978) hat uns vor Augen geführt, dass erst durch die Definition des anderen (die Orientalen) die eigene Identität (Europa), also durch die Differenz, entstehen kann. Und: je mehr Asien zur Frau gemacht wurde, desto mehr wurde Europa zum Mann. Dadurch werden Parallelen bei Frauen und Orientalen sichtbar: Die Dominanz der Sinne über den Verstand; der Herrscher darüber war der bürgerliche Mann Europas. Es erfolgt eine langsame Wandlung der Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder ebenso wie der Bilder vom Orient.

“Heute wissen wir, dass dieser Bürger, dieser halbierte Mann ähnlich dem sagenhaften Stiermenschen, … , den Maßstab für das politische, für das Menschliche im Menschen verloren hat. … Europa sitzt auf dem Stier, und muss sich wie auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht”

(Kuhn, 2009)

Die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft

Frevert und Pernau diskutieren in ihrem Beitrag zwei Ansätze postkolonialer Strömungen: Die Maskulinisierung der jungen Generation und die Rückbesinnung auf weibliche Stärken wie Gewaltfreiheit (Gandhi); Die Spiritualität des Orients als Kraftquelle … die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft. Beide Aspekte sind evident und als Zeitgeist hier wie dort gut beobachtbar.

Die wesentliche Erkenntnis ist, dass Europa und der Osten nicht getrennt voneinander interpretiert werden können. Es verdeutlicht die Notwendigkeit für eine globalgeschichtliche Perspektive. Europa und der Osten ergeben ein Ganzes.

Blogartikel: Safa kam aus dem Westen – persönliche Antwort
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