Libanon – Tor in den Nahen Osten

Her mit der Revolution!

Überall die Libanesische Fahne, nicht als Zeichen eines übermäßigen Nationalstolzes sondern als Symbol der Einheit.

Heute ist der fünfte Tag der andauernden Proteste in Libanon. Alles steht still, außer an den vielen Plätzen im ganzen Land, auf denen Kundgebungen stattfinden. Das ist das erste Verblüffende. Die Proteste gegen die Regierung konzentrieren sich nicht nur auf Beirut, sondern sie finden überall im Land statt und zwar über Konfessionsgrenzen hinweg. Das ist einzigartig, denn bisher gab es kaum einen Libanesischen Schulterschluß in der Bevölkerung und genau dieser findet gerade statt. In den großen Städten wie auch in den Dörfern mit zentraler Lage. Als in Tyr, im Süden des Landes, Sicherheitseinheiten der regionalen politischen Macht Amal gegen die Protestierenden los gingen und sie begannen einzuschüchtern, haben sich Protestierende in anderen Teilen des Landes solidarisch aufgezeigt. Niemand scheint mehr gewillt zu sein, die Unterdrückung und Tabus, die das Land so lange gelähmt haben, zu akzeptieren.

Es ist eine andere Generation, die nach dem Bürgerkrieg aufgewachsen ist und die religiös-politische Aufteilung der Macht im Land als schädlich und blockierend empfindet. Alle sprechen davon, dass diese Aufteilung, die sich in der Verteilung der politischen Spitzenämter nach Religionszugehörigkeit widerspiegelt, das Land in den sozialen und wirtschaftlichen Abgrund geführt hat. Leider steht Libanon derzeit gerade genau da, denn die angekündigten Austeritätsmaßnahmen haben dazu geführt, dass das Faß übergelaufen ist. Eine Steuer auf Internettelephonate (whatsapp tax), die die bereits unmäßig teure Telefonie teilweise ersetzt, war das letzte Tüpfelchen.

Wer mag schon in einem Land leben …

Nichts gibt es, das hier einfach funktioniert wie in anderen Ländern. Kein öffentlicher Transport, kein sauberes Trinkwasser, tägliche Elektrizitätsstilllegung im besten Fall nur für drei Stunden wie hier in Beirut, während es in anderen Landesteilen bis zu zwölf Stunden sein können, wie zum Beispiel in Tarablus, der zweitgrößten Stadt im Land. Dazu kommt noch die Müllkrise, die hier überall wahrnehmbar ist weil sie riechbar und sichtbar ist und die Umweltverschmutzung, die man am eigenen Leib spüren kann. Ich könnte die Liste ergänzen, aber es macht keinen Unterschied, alles läßt sich darauf reduzieren, dass das Leben hier und die Menschen nicht mit Respekt behandelt werden. Es fehlt an Achtsamkeit gegenüber den alltäglichen menschlichen Bedürfnissen. Diese Form der Vernachlässigung und Geringschätzung ist so spürbar, dass es für eine Außenstehende wie mich kaum erträglich ist. Deswegen bin ich nicht gerne hier.

Wären da nicht die Menschen, die aus der Misere Kraft und eine beeindruckende Kreativität schöpfen, die es in saturierten Regionen nicht gibt. Und die berauschend schöne Landschaft, die alles beinhaltet von Meer und Küste über die fruchtbaren Täler bis zu den Bergen und Skigebieten, und das kulturelle Erbe der Phönizier und ihrer NachfolgerInnen. Eigentlich ein Paradies, genauso hat es mir die junge Kellnerin, die aus Tarablus stammt, gerade gesagt, mit dem Zusatz: “Sie haben es zerstört und uns bestohlen!” Das habe ich von vielen dieser Tage gehört und es wirkt sehr nachvollziehbar.

Feuer am Dach

Es wurde viel Geld in dieses Land gepumpt, alles ist versickert. Selbst als vor zwei Wochen die Waldbrände losgingen, die wie in vielen Mittelmeerländern jedes Jahr aufgrund der Trockenheit entstehen, war man diesmal auf griechische und zypriotische Hilfe angewiesen, weil die Ausrüstung nicht gewartet war, angeblich kein Geld dafür zur Verfügung gestellt wurde. Nur wo ist das Geld? Die Ausrüstung mit Helikoptern wurde gespendet. Beim Warten auf ausländische Hilfe sind riesige Waldflächen und viele Häuser abgebrannt. Die Ministerien haben sich gegenseitig den schwarzen Peter zugespielt, eine peinliche öffentliche Zurschaustellung offensichtlicher Unfähigkeit und Korruption.

The power of the people is stronger than the people in power!

auf einem Transparent geschrieben

Am Wochenende bevor die Proteste losgingen, saß ich am (kontrollierten) Lagerfeuer in den Wäldern außerhalb von Beirut mit engagierten jungen Menschen zwischen 25 und 35 Jahren. 1/3 von ihnen überlegte auszuwandern, weil sie keine Perspektiven sehen und keinen Job finden trotz guter Ausbildung. Die anderen wollten weiter kämpfen, aber wußten auch nicht, wie lange sie sich das leisten können. Alle leben auf Pump oder von der Hilfe der Diaspora, um das Leben, das täglich teurer wird, zu bewältigen. Jede/r von ihnen ist zivilgesellschaftlich engagiert, um Veränderungen herbeizuführen, mit mehr oder weniger Erfolg. Als Europäerin fand ich in den Gesprächen ausreichend Stoff für Depressionen und Panikattacken, aber die Menschen hier haben Galgenhumor, und sie verstehen es zu feiern als gäbe es kein Morgen. Wie wahr, denn morgen war alles anders. Kollektiver Aufbruch!

Systemwechsel mit starken Frauen

It is a very unusual way to ask for your rights with songs and bad words and music and parties …

Kommentar einer Aktivistin

Ich gehe jeden Tag zu den Protesten in Beirut, um die Stimmung zu verfolgen und meine kleine emotionale Unterstützung zu zeigen. Es wäre nicht Libanon, wäre es nicht auch eine große Party. Alle Generationen und Geschlechter sind aktiv, die diversen politischen Gesinnungen und religiösen Hintergründe sind repräsentiert. Und seit Freitag sind es jeden Tag mehr, alle sind sich einig: “the civil war ended on Oct 17, 2019.” Die Kämpfe wurden vor fast 30 Jahren beendet, aber so fühlt es sich für die Menschen hier an. Sie möchten nicht eine neues Reformpaket an das keine/r glaubt, sondern einen Systemwechsel.

Mir ist aufgefallen, dass besonders viele Frauen präsent sind, auch unter den AktivistInnen und SpeakerInnen. Sie tragen viel dazu bei, dass die Proteste bisher bis auf Ausnahmen, die sofort öffentlich gemacht wurden, nicht in Gewaltakten mündeten. Sie bringen ihre kleinen Kinder mit und kämpfen für die Interessen ihrer älteren Kinder, es geht um die Zukunft. Frauen haben im Libanon eine schwierige Stellung, obwohl sie in der sozialen Begegnung sehr stark wirken. Das Land liegt nur auf Platz 138 von 145 Ländern im World Economic Forum’s 2015 gender gap and labor participation assessment. Sie können in diesem Kampf nur gewinnen und viele von ihnen wollen die Chancen an vorderster Front nutzen. Sie alle rufen: ثورة Revolution!

Road is closed for the country’s maintenance.

auf einem Transparent bei einer Straßenblockade

Das ist auch meine Realität. Natürlich bin ich solidarisch und freue mich, wenn die Proteste den ersehnten Wechsel und die Veränderungsimpulse bringen. Tatsache ist aber auch, dass in einem Land am wirtschaftlichen Abgrund seit Tagen alles still steht – vom öffentlichen Dienst, Schulen, Universitäten bis zu den Banken ist alles geschlossen und es ist unabsehbar, wie rasch sich das ändern wird. Ich hatte zwei Gesprächstermine, einen südlich und einen nördlich von Beirut. Keiner davon ist erreichbar aufgrund der Straßensperren. Schön langsam wächst auch die Sorge, ob alles friedlich bleiben wird, oder andere ungewollte Kräfte den gut Gemeinten das Zepter aus der Hand nehmen könnten. Aber viele meinen hier, dass es nicht mehr schlechter werden kann und die positive Energie ist berauschend. let’s hope for the best!

Jeden Tag und die ganze Nacht wird am Märtyrerplatz mitten in Beirut protestiert und gefeiert

Es wären nicht die Libanesinnen würden sie nicht diesen Anlass für National-Styling nutzen

Fast 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs haben die Menschen für sie gesperrte Gebäude und Zonen zurück erobert. Hier das Nationalsymbol “Ei” in Beirut.